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Amphi Festival 2022

“Your spirit can’t be broken”

24.07.2022 [nk] Wenn man sich in der Sommerzeit der beiden letzten Jahre Mitschnitte von Festivals angesehen hat, wurde man richtig wehmütig. Tausende Menschen standen eng beieinander, tanzten ausgelassen, feierten selig ihre liebsten Bands, ließen ihre Sorgen hinter sich, sie hatten einfach eine gute Zeit. Doch dann änderte sich alles. Die Pandemie überrollte uns mit aller Wucht. Sie war für uns alle neu und schürte Ängste. Es folgten Veranstaltungsverbote und etliche Jobs der gesamten Branche wurden nicht mehr benötigt. Der Blick zurück erschien unwirklich und bitter zugleich. Würde sich dies eines Tages wieder ändern? Und in diesem Sommer ist es soweit, die Antwort lautet: Ja! Und zwar aus vollstem Herzen. Die Pandemie ist nicht vorbei, aber bedeutende Parameter haben sich verschoben und somit dürfen wir uns über einen ausgiebigen Festivalsommer freuen. Und auch dem Amphi Festival stand nichts im Wege. Die Arbeit wurde wieder aufgenommen. Das Gelände wurde wieder hergerichtet, die Besucher planten ihre Looks, die Bands stellten Setlists zusammen, probten für ihre Auftritte und diese quirlige Zeit, gepaart von purer Vorfreude bahnte sich unaufhaltsam ihren Weg.

Nun war es soweit. 12.500 Besucher machten sich auf zum Kölner Tanzbrunnen. Natürlich konnte man sich wieder vor der wunderbaren Outdoor Mainstage versammeln. Des Weiteren gab es Konzertangebote im Theater oder man besuchte die Orbit Stage auf dem Schiff. Ansonsten luden der herrliche Beachclub samt Domblick, oder die große, schattige Met-Insel zum Verweilen ein. An zahlreichen Ständen gab es ein vielfältiges, kulinarisches Angebot. Natürlich wurde auch die Shoppinglaune bedient. Man konnte nach Herzenslust über das Gelände bummeln und Merchandise, neuen Schmuck, Deko oder düstere Mode erwerben. Oder aber bei den Autogrammstunden seinen Stars für einen Moment lang nahe sein und hinterher stolz seinen Freunden davon erzählen oder die frisch geschossenen Selfies gleich auf seinen Social Media Kanälen posten. Doch was wäre ein Festival ohne Musik? Diese sollte keineswegs zu kurz kommen, schließlich standen satte 40 Bands auf dem Spielplan. Durch das Programm führte das etablierte Moderatoren-Trio Dr. Mark Benecke, Jens Domgörgen und Oliver Stein.

Samstag. Den Anfang machten Chemical Sweet Kid. Man nehme eine Prise Combichrist, füge einen Hauch Marilyn Manson hinzu und vermenge dies mit eigenen Ideen. Sie kommen melancholisch und leise, aber auch mal aggressiv und fordernd daher. Das Set begann mit lieblicher Spieluhrmusik. Dazu gesellte sich eine tänzelnde Ballerina auf die Bühne, die jeweils eine Maske im Gesicht und am Hinterkopf trug. Dann ging es los. Sänger Julien Kidam bot einen sehr präsenten Auftritt. Er ließ seinen Blick immer wieder intensiv über die Gesichter im Publikum schweifen. Man fühlte sich schnell abgeholt und mit Songs wie „Playing with Knives“ oder „Pass auf“ zog einen die Band in ihren finsteren und faszinierenden Bann. Doch Chemical Sweet Kid können auch anders. Beim finalen Cover-Song “We´re not gonna take it” zündeten sie unerwartet ein Feuerwerk der guten Laune. Der Keyboarder schlüpfte in eine lila-farbene Fellweste und das finster bemalte Gesicht des Sängers nahm plötzlich durch eine rosarote Sonnenbrille in Sternform richtig fröhliche Züge an. Die Jungs hatten jedenfalls Spaß und das Publikum stimmte sogleich bei dem bekannten Refrain mit ein. Wer hier auch auf den Geschmack gekommen ist – Chemical Sweet Kid touren derzeit mit Project Pitchfork.

Nachtblut. Bitte warten. Der Start verzögerte sich um wenige Minuten. Dann gingen die Daumen am Mischpult in die Höhe und es erklang ein schauriges Intro gepaart mit Kirchenglocken. Im Publikum durfte nun die Haarpracht von haltgebenden Spangen befreit werden, denn hier stand echter Dark Metal auf dem Programm. Nachtblut hatten zwar eine böse Attitüde inne, Sänger Askeroth trug auch ein aufwendig gestaltetes Outfit mit schweren Ketten und Pentagrammen. Er ließ zudem seine hüftlange, schwarze Mähne Kreisen, auf die so manche Frau neidisch werden könnte. Doch selbst düstere Gestalten haben mal einen Schalk im Nacken. Stand er doch mit seinem Gitarristen auf einem Podest, ahmte sein Gitarrenspiel in der Luft nach, poste und aus dem Nichts stupste er diesem mit seinem Zeigefinger kurz auf die Nase und konnte sich ein diebisches Grinsen nicht verkneifen. Die ersten Reihen wurden dann sogar mit Vodka Blue Curaçao belohnt. Die Wiedergeburt eines Festivals gilt es schließlich gebührend zu feiern. Ablaz genoss auch gleich ein Crowdsurfing-Bad in der Menge. Final coverten die harten Metaller „Alles nur geklaut“ von den sanft poppigen Prinzen. Askeroth hatte sich bereits einige Songs zuvor von seiner schweren Kluft befreit und besuchte mit freiem, gestähltem Oberkörper die erste Reihe. Wurde schon erwähnt, dass wir ein besonders heißes Wochenende erwischt haben?

Auf ins heruntergekühlte Theater zu Alienare. Mark Benecke kündigte das Duo wie folgt an: „Die nächste Band ist sehr gut frisiert – viel besser als ich.“ In der Menge sah man etliche grüne Knicklichter, die vorab an die Besucher verteilt wurden. Sänger T. Green begrüßte uns „Vielen vielen dank, dass ihr schon wach seid. Wir feiern heute das Amphi 2020/21/22 und SO müssen wir auch feiern.“ Es folgte Synthpop Musik, bei der kaum ein Bein stillstand. T. Green strahlte unentwegt, seine Augen leuchteten vor lauter Freude und seine lockeren Sprüche sorgten für ausgelassene Stimmung. „Der nächste Song heißt Everything will be Alright – ich glaube, heute ist einer solcher Tage.“ Neben zwei neuen Singles vom neuen Album „Emerald“, das Anfang Januar 2023 erscheinen wird, durften auch bekannte Songs und er Hit #Neon nicht fehlen. Der Applaus war Alienare sicher. Und bei der Verabschiedung war der sympathische Sänger sichtbar ergriffen.

Weiter ging es mit Empathy Test und einer samtigen Portion Synthpop, an der man als 80er Jahre Fan einfach nicht mehr vorbeikommt. An den Securities kam man nach kürzester Zeit übrigens auch nicht mehr vorbei, denn es kam zum Einlass-Stopp. Nach dem groovigen Opener “Monsters” erinnerte sich Sänger Isaac Howlett „It`s great to be back Amphi – after four years. I had a completely different band”. Recht hat er. Schließlich hat sich die Live-Besetzung mittlerweile komplett verändert. Bei spärlichem Licht in lila-pinken Tönen lauschte man aber nun seiner absolut brillanten Stimme und konnte sich dem seichten, melancholischen Sound hingeben. Empathy Test beglückten ihr Publikum mit Stücken wie „Bare my Soul“, „Vampire Town“ oder „Fear of Disappearing“. Und Isaac hatte noch einen brandheißen Tipp parat. Denn am Merchstand konnte man das „Must-have shirt oft he year“ erwerben. „Real Goths are disgusted. You can show your disgust for the rest of the weekend.”

Zeit, wieder einen Gang hochzuschalten. Auf der Main Stage gaben nun Solar Fake Gas. Elliott Berlin (Combichrist, Nidbild) sprang für den kurzfristig ausgefallenen Keyboarder André Feller ein. Dies merkte man dem Tausendsassa jedoch nicht an. Er fegte ab dem ersten Moment über die Bühne und integrierte sich hervorragend ein. Sänger Sven Friedrich begrüßte die Menge „Wir sind endlich da. Schön, dass ihr auch da seid.“ Trotz der sengenden Hitze fanden sich tausende Fans hier ein – so voll ist sonst nur bei den Headlinern. Und diese ließen sich direkt von der Energie der Band anstecken. Ein Pärchen tanzte gar Discofox zu den elektronischen Klängen. Sven resümierte „Der positive Effekt, dass das Amphi 2x verschoben wurde: Damals gab es diesen Song noch nicht – Pretty Life.“ Einen kleinen Texthänger hatte Sven bei „Under Control“. Er konnte es selbst kaum fassen und schlug sich kurz mit der flachen Hand gegen die Stirn. Der Stimmung tat es keinen Abbruch, im Gegenteil. Elliott schmiss sich mit seinem Bass in die Menge und ließ sich umhertragen. Mit dem wütenden Song „Observer“ endete das abwechslungsreiche Set der Jungs. Was für ein Auftritt.

Nun gaben sich Mesh die Ehre. Ein Garant für verträumte Momente. Die Jungs präsentierten neben ihren Hits wie „Born to Lie“, „Taken for Granted“ oder „Just Leave us alone“ auch eine B-Seite: „From this Height“. Ihre Fans zeigten sich singfreudig und textsicher. Man lag sich in den Armen und genoss jede Sekunde. Ein weiteres Highlight folgte mit dem Song „Friends like these“. Schließlich wurde auf der Leinwand ein Video mit etlichen Aufnahmen von seligen Mesh-Fans eingeblendet. Zum Schluss sorgte der sanfte Chor der Menge für Gänsehaut. Sie ließ den Titel „Runway“ ausklingen und hörte nichtmal auf, als die Band bereits die Bühne verlassen musste. Welch schöner Moment.

Wie wäre es mit einer Portion Gothic-Rock? Passend zum Song „Louder than Hell“ legten Mono Inc. mit einem lauten Knall los. Die einzelnen Toms an Katha Mia‘s Schlagzeug waren mit LED-Lichtern umrandet und sorgten für ein buntes Farbspiel. Hinter der Drummerin waren riesige Rabenflügel zu sehen. Mono Inc. beglückten ihre Fans mit Songs wie „Welcome to Hell“ oder „Children oft he Dark“. Neben mir hüpfte eine beseelte Frau umher, schaute ihren Mann an uns meinte „Aaaaah, das ist so schön!“ Kurz danach erblickte ich eine etwas ältere Dame in einem schwarzen Tutu. Sie war barfuß und sprang wie ein Flummi durch die Menge. Dabei tanzte sie verschiedene Leute an. Ich bekam direkt eine Gänsehaut. Dass so etwas wieder möglich ist. Vor einem Jahr wurde man irgendwo erbost angemosert, wenn man jemandem nur ansatzweise zu nahe kam und hier wurde die wunderbare Dame einfach angestrahlt und alle freuten sich mit. Eine Akustik-Version von „Das Boot“ – gepaart von einem gekonnten Drum Solo erntete besonderen Beifall. Martin Engler ergriff auch das Wort „Ich bin so stolz auf euch, dass ihr nach dieser schwierigen Zeit alle wiedergekommen seid. Ihr seid die wahren Helden.“ Er lobte zudem die familiäre Situation: „Auch Backstage. Alle haben sich lieb. That`s what it`s all about”.

Zurück ins Theater. Hier wurde man mittlerweile von extrem schwüler Hitze überrollt. Doch wenn sich Birthday Massacre hierzulande die Ehre geben, muss man mit Tapferkeit glänzen. Der Auftritt der Kanadier verzögerte sich aufgrund technischer Probleme um 20 Minuten. Doch das Warten hat sich gelohnt. Mit „Superstition“ ging es dann endlich los. Frontfrau Chibi entschädigte einen sogleich. Sie interagierte mit dem Publikum, zwinkerte vereinzelten Fans zu, verteilte Luftküsschen… diese Frau könnte niemals jemand hassen. Warum auch? Man lässt sich viel lieber von ihr verzaubern, wenn sie einem niedlich zuwinkt oder sie mit ihren Händen Herzen formt. Außerdem trug sie nicht mal hohe Schuhe – sie trug einfach gar keine und hüpfte stattdessen mit ihren Overknees fröhlich über die Bühne. Vermutlich hat selten jemand so viele Herzen in kürzester Zeit im Sturm erobert. Im Gegensatz dazu ist der Sound von The Birthday Massacre wuchtig, laut und hart. Die ersten Reihen ließen sich zum Headbangen verleiten – zur Freude der dahinter liegenden Reihen. Wenn wir schon in der Sauna sind – darf auch herumgewirbelt werden. Mit 14 Songs war hier auch durchaus Durchhaltevermögen gefragt. Doch als dann zum Schluss das Stück „Weekend“ final ausklang, war man doch ein wenig wehmütig. Wobei, wie wäre es mit einem Kurztrip in die UK? Dort touren The Birthday Massacre im Herbst.

Bereit für den Headliner des ersten Tages? Es war Zeit für VNV Nation. „Liebe Leute, ich habe euch vermisst.“ Wir erlebten einen lockeren, sowie redseligen Ronan Harris. Positiv fiel auch Keyboarder André Winter auf, der das breite Grinsen das ganze Set über nicht aus seinem Gesicht bekam. Etliche Glanzstücke aus den letzten Jahren luden alle zum Tanzen ein. Aus dem Publikum hörte man auf einmal auffordernde Rufe. Ronan reagierte sofort: „Ausziehen? Ich bin kein Stripper! Das willst du nicht sehen, ich schwöre, das willst du nicht sehen. Darf ich singen?“ Na klar durfte er. Und wir feierten zu „Genesis“. „Als Liedschreiber darf ich euch von ganzem Herzen danken, dass euch so ein Lied auch so betrifft, wie mich“. Ronan meinte den Song „Illusion“ und die stilleren Klänge taten einfach gut, während am Himmel die Sonne unterging. Habt ihr schon die beiden Einhörner am Stiel vermisst? Ronan hat die zwei treuen VNV Maskottchen sogleich erblickt und sich eins zuwerfen lassen. Sofort galoppierte er damit über die Bühne und fragte leicht drohend Richtung Menge: „Willst du das Einhorn enttäuschen?“ Dem war selbstredend nicht so. Die Fans waren verdammt gut drauf. Kurz darauf ließ Ronan einen Mann mit freiem Oberkörper auf die Bühne holen. Er hatte ihm das Versprechen gegeben, ihm sein VNV Nation Tattoo zu signieren. Dies tat er nun unter tosendem Applaus. „Wollt ihr jetzt was ruhiges?” Von wegen – es ging sogleich unerbittlich weiter mit den treibenden Beats von „Control“. Als wir „Legion“ hörten, berührten mich die bekannten Zeilen „And what will happen? Will I dream? I am too scared to close my eyes” auf besondere Art und Weise. Mögen Momente wie diese niemals enden. Doch wir befanden uns in keinem Traum und das machte mich gerade sehr glücklich. Kurz danach wurde es ernst. Ronan erspähte einen Fan, der oftmals fotografierte.Sogleich wurde er streng: „Tu die Kamera weg, genieß das Konzert. Es läuft vor deinen eigenen fucking Augen ab. Live experience!“ Gesagt, getan. Wir genossen die schillernde Lightshow zum Song „Nova“. „So liebe Leute, ich wohne seit 21 Jahren in Deutschland. Im Februar 2023 kommt unser neues Album ,Electric Sun‘. Ich habe schon gesagt, dass es dunkler wird. Auf einem Niveau, das ich noch nicht hatte.“ Und dazu wird es auch eine Tour geben. Für uns endete der Abend mit dem tiefgreifenden und bewegenden Stück „All our Sins“. Manche blieben im Anschluss noch ein Weilchen auf dem Gelände und ließen den Tag beseelt Revue passieren. Im Theater und auf dem Schiff verführten einen derweil noch erfolgreiche Szene DJs zu weiteren Tanzeinlagen. Diese sollte man unter Umständen noch bereuen…

Sonntag.
Das böse Erwachen folgte unweigerlich – zunächst mussten die Blasen an den geschundenen Füßen verarztet werden. Dann galt es, sich gegen die drohende Hitze des Tages zu wappnen. Gestern hat man einige Sonnenbrände in unterschiedlichen Härtegraden wahrgenommen. Also her mit der Sonnencreme. Der ausgebuddelte Handventilator sollte einem später auch noch exzellente Dienste bieten.

Als wir den Tanzbrunnen erreichten, spielte gerade die Heldmaschine. Die Jungs waren ebenso gut auf die Hitzewelle vorbereitet. Tranken Sänger René Anlauff und sein Drummer doch direkt aus schwarzen Kanistern. René zeigte sich zudem von seiner sorgsamen Seite und gönnte auch jemanden aus dem Publikum einen kräftigen Schluck. Musikalisch stand hier Neue Deutsche Härte auf dem Programm. Bei Songs wie „Auf allen Vieren“, „Radioaktiv“ oder „Spring“ ging es ordentlich zur Sache. Nun erhielten alle Musiker eine eigene Trommel. Die Jungs hielten dazu Drumsticks mit LEDs in den Händen. Die Spitzen leuchteten jeweils blau und gelb. Das Zeichen kam an und die Musiker begannen gleichzeitig zu Trommeln. Die Menge war begeistert. Nun kamen auch wieder die Gitarren zum Einsatz und leiteten den Song „Ich, ich, ich“ ein. René ergriff das Wort „Wer sich fragt, warum der Depp da vorn – das bin ich – das R rollt… Wir zeigen euch das jetzt in Form eines Songs.“ Und in den Lyrics heißt es u.a. „Ich roll das R weil es mir gefällt“. Schon stand das Finale an. „Wie heißt immer unsere letzte Nummer?“ Das Publikum schrie „Weiter!“ „Obwohl es nicht weiter geht. Darf ich zu euch rein? Kommt mal her, ihr starken Männer. Ihr sollt mich tragen.“ Gesagt, getan. René begab sich bäuchlings(!) auf das Meer aus Händen und genoss den Ausflug in die Menge.

Mit Aesthetic Perfection folgte DIE Überraschung des Festivals. Zuletzt sah ich Daniel Graves im Serienmörder-Look à la Fritz Haarmann. Trug er doch einen prächtigen Schnauzbart zu einem schwarzen Hut und einem düsteren Outfit. Der Schnäuzer wurde vielerorts heiß diskutiert. Die beiden neuen Musiker an seiner Seite, die „Mystery Men“ waren sonst ebenfalls schwarz gekleidet und ihre Gesichter wurden von geheimnisvollen, verzierten Masken aus Leder versteckt. Doch heute war alles anders. Zwar erklang das bekannte Intro „Warte, warte noch ein Weilchen“, in dem die grauenvollen Taten des Killers Fritz Haarmann dargeboten wurden. Doch was wir dann sahen, folgte zu etlichen heruntergeklappten Kinnladen, ungläubigen Blicken und wandelte sich unweigerlich zu purer Begeisterung und frenetischem Jubel! Daniel stürmte mit einem hellen Strohhut, Black Metal Make-Up, einem grellen Neonhemd mit quietschbunten Schriftzügen, schwarzen Netzhandschuhen, einer hellblauen Schwimmshorts, hochgezogenen, weißen Tennissocken, und hohen Martens auf die Festivalbühne. Seine Boys an den Drums und an den Keys trugen rote Hawaiihemden, weiße Caps, helle Shorts, ebenfalls hochgezogene Tennissocken. Dazu haben sie sich weiße Paisley Dreieckstücher über ihre Nasen gezogen. Daniel hält der Szene derzeit ganz gerne amüsiert den Spiegel vor und provoziert allzu gern das ein oder andere engstirnige Gemüt. Heute kann man nur sagen: Treffer versenkt! Musik gab es auch noch. Aesthetic Perfection stehen für Industrial-Pop. Daniel jubelt einem aber auch immer wieder andere Musikstile zusätzlich unter. „We are Aesthetic Perfection and we are here to party.” Los ging es mit schweren Gitarrenriffs zu “Gods & Gold”. Daniel hatte die Menge von Beginn an für sich gewonnen. Kurz vor der Bühne ragte übrigens eine Traube mit bunten Luftballons aus dem Publikum hervor. Wenn Daniel in der Nähe der Ballons stand, wirkte das gesamte Happening noch skurriler. „We want everyone of you to jump as high as you can.“ Und obwohl die Sonne unerbittlich knallte – die Meute hüpfte. Daniel verweilte während des Auftritts (zur Freude der Fotografen) immer wieder kurz in besonders coolen Posen. Dennoch schien er den Auftritt auch immens zu genießen. Er ging auch immer wieder aus sich heraus und das war besonders schön zu sehen. Wenn sich der mysteriöse Keyboarder während seines Spiels nicht gerade grazil und filigran bewegte, griff er zwischendurch immer mal zu seiner Gitarre und nahm gemeinsam mit Daniel die komplette Bühne ein. Zu „Spit it Out“ stachelte Daniel die Zuschauer weiter an „I wanna hear you screaaaaaaam” und diese gaben alles. Leider beendeten sie ihr Set dann auch schon mit dem Song „Love, Like, Lies“. Daniel brüllte sich noch ein letztes Mal die Seele aus dem Leib und dann war das kurzweilige Set auch schon vorbei. Was aber bleibt sind viele, neu hinzugewonnene Fans. Aesthetic Perfection haben heute ihre Skeptiker überzeugt. Spiel, Satz und Sieg!

Jetzt musste dringend eine Abkühlung her. Wir versorgten uns an einem Stand mit herrlichem Milcheis und suchten uns ein Plätzchen im Schatten. Dies gestaltete sich gar nicht so einfach. In diesem Jahr gab es zwar viele neue Sitzmöglichkeiten auch viel Schatten. Doch aufgrund der hohen Besucherzahl kam mir unweigerlich das Bild einer eng aneinander gerotteten Kuhherde an einem kleinen Schattenplatz auf einer riesigen Weide in den Sinn.

Wir wurden fündig und konnten uns kurz ausruhen, bevor es ins angenehm temperierte Theater zu Wisborg ging. Das Augenlicht musste sich erstmal an die Dunkelheit gewöhnen. Die Bühne wurde mit rotem Licht ausgeleuchtet, als die drei Musiker die Bühne betraten. Sänger Konstantin Michaely trug zu seinem schwarzen Outfit und den Cowboystiefeln eine stylische rote Lederjacke, sowie eine Sonnenbrille, die das Theater bei dieser Dunkelheit nahezu in ein schwarzes Loch verwandelt haben könnte. Mit dem Opener „Caligari“ preschten die smarten Goth-Rocker gleich gut los. Konstantin näherte sich danach direkt dem Publikum an der Absperrung. „Das ist ein bisschen gefährlich da vorne, aber auch ein bisschen cool. Glaub, da komme ich nochmal wieder“. Und siehe da, die Stolperstellen vor der Bühne konnten ihn tatsächlich nicht aufhalten. Beim nächsten Song kam er erneut nach vorne und bahnte sich seinen Weg an der ersten Reihe entlang. Seine Techniker hielt damit ordentlich auf Trab, schließlich war sein Mikrofon mit einem langen Kabel versehen. Doch keine Sorge, gemeinsam hatten Sie die Lage im Griff und die Fans erfreuten sich an den Besuchen des Sängers. „In the Haze of a drunken Hour“ kam zunächst verträumter daher. Die Klänge waren düster doch sanft zugleich und gewannen im weiteren Verlauf an Dramatik hinzu. „You make me feel alive, Amphi! Es ist wieder Zeit für die Sonnenbrille. Der nächste Song ist ein Liebeslied ,Perfume und Cigarrettes‘.“ Das Theater füllte sich immer mehr und die Jungs belohnten das Publikum mit ihrer gehörigen Spielfreude.

Sono schlugen hingegen wesentlich seichtere und zudem poppige Klänge an. Hier handelte es sich um eine Premiere, denn Sono spielten zum ersten Mal auf dem Amphi Festival. Leider gab es zuvor noch einen unschönen Vorfall. Ihr dritter Mann an Bord (Martin Weiland) erlitt zwei Bandscheibenvorfälle und konnte nicht dabei sein. Lennard Salomon ließ ihn aber nicht gänzlich allein. Er bat das Publikum um einen standesgemäßen Applaus. Diesen filmte er sogleich, um ihn später bei Instagram zu posten und Martin diesen besonderen Gruß zu widmen. Bei dem Auftritt der Jungs blieb kein Fuß neben dem anderen stehen. Die mitreißenden Songs luden sogleich zum Grooven ein und als „Keep Control“ erklang, meinte Lennard, spätestens jetzt habe man kapiert, um welche Band es sich handele. Sono kamen wirklich gut an. Gegen Ende coverten sie noch David Bowie`s “Space Oddity“ und dieser Auftritt war gewiss nicht der letzte Auftritt auf dem Amphi. Eines Tages sehen wir die Jungs hier bestimmt wieder.

Auf der Mainstage wurde es nun mächtig und düster, lieblich und verträumt zugleich. Diary of Dreams bescherten uns ein Wechselbad der Gefühle. Für Adrian Hates stand auf dem Bühnenboden ein kräftiger Ventilator parat, der für angenehme Abkühlung aber vor allem – für wehendes Haar (und Seufzer der ein oder anderen Besucherin) sorgte. Das Set begann mit „Sinferno“ gegen Ende versagte jedoch die Technik. Man hörte nur noch die Drums. Es gab also nicht nur an der Theaterbühne Stolperstellen – an der Mainstage ist einer der Fotografen an einem wichtigen Kabel hängen geblieben und das kurze Fiasko war perfekt. Das Problem wurde schnell gelöst, doch die Fotografen wurden direkt geschlossen des Weges verwiesen. „Epicon“ bescherte uns ein mächtiges Drum-Gewitter und das Publikum stimmte beim Refrain lauthals mit ein „Tell me now!“ Adrian wurde danach kurz nachdenklich „Auf der Bühne zu sein ist immer noch fremd. Aber es tut gut, eure Gesichter wiederzusehen. Und jetzt wird es sperrig.“ Es folgte „Charma Sleeper“ – ein Song den man live nur noch selten zu hören bekommt. „Seid ihr schon gar?“ Es ertönten die verspielten Klänge von „Endless Nights“. Bei diesem Song fällt es selbst den Kritikern schwer, Diary of Dreams nicht zu mögen. Und spätestens jetzt muss man einfach in Wallung geraten und zwischendurch auch mal lächelnd die Äuglein schließen, um den Song auf sich wirken zu lassen. Final hat es doch tatsächlich wieder der „Traumtänzer“ auf die Setlist geschafft. Adrian gestand, dass er selbst mal eine Pause von dem Stück brauchte. Die Fans hießen das Comeback natürlich herzlich willkommen und stimmten voller Gefühl und Inbrunst mit ein. Leider hat am Ende des Sets der Kreislauf eines Besuchers schlapp gemacht. Adrian wollte gerade ein neues Album für das kommende Jahr ankündigen. Doch der Schwächeanfall degradierte jegliche Informationen zur Nebensache. Dem Mann wurde aber ganz schnell geholfen und er hat sich zum Glück zügig wieder erholt. Fest steht: Wir dürfen uns im Frühling 2023 auf ein neues Werk von Diary of Dreams freuen. Unsere Augen dürfen also fröhlich weiter glitzern 😉.

Was wäre das Amphi Festival ohne Eisbrecher? Die Herren gehören mittlerweile fast zum Inventar. Und sie konnten es scheinbar kaum erwarten, denn sie legten 4 Minuten früher mit ihrem Knaller „Verrückt“ los. Sänger Alex Wesselsky war jedenfalls gut drauf „Ihr seid alle drei Jahre älter, aber kein Jahr unschöner.“ Doch das Wetter machte scheinbar selbst diesem gestandenen Mann zu schaffen, denn als im Publikum der Wunsch erklang, ein Kind von ihm zu wollen, konterte er „Ich will jetzt gerade kein Kind mit dir. Dafür isses mir zu warm.“ Jetzt musste aber niemand eine Schnute ziehen, denn Eisbrecher hatten als Überraschung einen taufrischen Song im Gepäck „Frommer Mann“. Und das war noch nicht alles. Sie präsentierten gleich noch drei weitere Stücke vom aktuellen Album „Liebe macht Monster“. Kurz darauf verschwand Alex heimlich von der Bühne. Dies hatte einen wichtigen Grund. Denn er schlüpfte todesmutig in einen dicken Wintermantel und setzte sich eine kuschelige Fellmütze auf. Da wollte man dem Publikum doch glatt einen Bären aufbinden. Es fiel zwar Kunstschnee, doch von der im Song besungenen „Eiszeit“ konnte man hier nur träumen. War es gar eine Fata Morgana? Schnee im Sommer? Doch, bevor man da final zu einem Schluss kommen konnte, ging es Schlag auf Schlag weiter. Die Herren hatten richtig Bock zu Rocken. Frischen Wind brachte eine neue Version von „Himmel, Arsch und Zwirn“ herein. Hier hat man ein paar Hip-Hop Parts eingebettet, die dem Song überraschend gut stehen. „This is Deutsch“ lud nochmal alle zum Mitfeiern ein, bevor Eisbrecher mit ihrem Titel „Herzdieb“ Sehnsucht entfachten und uns dann zurückließen. Ganz schön clever – die Jungs möchte man danach einfach eines Tages wiedersehen.

Da war ja noch etwas. Wir waren noch gar nicht auf dem Schiff. Da der Rhein mit Niedrigwasser zu kämpfen hatte, stand das Schiff mit der dazugehörigen Orbit Stage auf der anderen Rheinseite und damit ein gutes Stück entfernt. Doch ein Shuttlebus (sogar mit offenem Oberdeck) löste dieses Problem. Zu Beginn der Fahrt stießen die Gäste sogleich einen kleinen Jubelschrei aus, schließlich tat der Fahrtwind unglaublich tut. Auf dem Schiff herrschte gleich eine andere Atmosphäre. Hier bekam man seine Getränke in richtigen Gläsern anvertraut. Die Entzückung ließ nicht lange auf sich warten. Nebenbei sei erwähnt, dass die frisch zubereiteten Wraps auch wirklich empfehlenswert sind.

Als Sahnehäubchen standen nun noch In Strict Confidence in den Startlöchern. Am Keyboard entdeckten wir sogleich ein bekanntes Gesicht – Dirk Riegner gab sich hier die Ehre. Hayde Sparks verstärkte die Band zusätzlich an der Gitarre. Ja und Herr Ostermann? Dennis war auch bestens gegen die Sommerglut gerüstet. Schließlich hat er einfach auf seine Bommelmütze verzichtet. Doch das war noch nicht alles. Seine beliebten Kniestrümpfe mussten ebenfalls zu Hause im Schrank auf den Winter warten. Stattdessen stand er mit seinen blanken Füßen auf der Bühne. Der Mann machte es richtig. Seine Hosenträger kamen aber zum Einsatz und wenn Dennis zwischendurch mal lässig mit den Händen in den Hosentaschen dasteht, ist er an Coolness eh kaum zu überbieten. Wir konnten glasklaren Sound genießen und dazu gab es einen Querschnitt aus altbekannten Hits und wahren Perlen, die plötzlich mal wieder zum Vorschein kamen. Das Schiff war sehr gut gefüllt und die mitreißenden Elektro-Sounds gepaart mit Denni‘ tiefer, unfassbar guten Stimme ließen einem keine Wahl – egal wie erschöpft man eigentlich war, hier war Endspurt angesagt! Einen Song lang hatte Hayde technische Schwierigkeiten an der Gitarre. Sie hockte auf dem Boden und drückte immer wieder diesen einen vermaledeiten Button. Doch auch hier wurde keinerlei Schwäche akzeptiert. Das Problem wurde behoben und Dennis tröstete Hayde ganz fürsorglich. „Machen wir eine Zeitreise. Der Song ist von 1997 – glaub ich. Der ist noch älter als wir alle!“ Es folgte „Industrial Love“. Sämtliche Songs wurden im Hintergrund bildlich mit wundervollen High-End Videos unterlegt. „Wir bauen euch ein Zauberschloss“ Der dazugehörige Titel ließ viele Herzen höherschlagen und Hayde tauschte ihre Gitarre gegen zarte Flügel ein, mit denen sie ästhetisch tanzte. Gegen Ende leuchteten am Rand des Stoffes auch noch LED-Lights auf. Als Zugabe hörten wir noch die „Herzattacke“ on Top und damit verabschiedeten sich In Strict Confidence platt aber glücklich von uns.

Geschlagene 1099 Tage mussten wir auf das Amphi Festival warten. Hinter uns liegt ein Wochenende voller faszinierender Eindrücke, von denen wir noch eine ganze Weile zehren können. Unser größter Dank gilt all den Organisatoren, Mitarbeitern und natürlich auch den Bands. Ihr habt alle fantastische Arbeit geleistet. Wir wurden überall freundlich empfangen und fühlten uns sehr wohl. Auf dem Gelände war übrigens eine putzige Drohne unterwegs. Hierbei sind beeindruckende Aufnahmen entstanden. Die dazugehörigen Videos tauchen nach und nach auf der Seite des Amphi Festivals auf. Behaltet diese also gerne noch ein Weilchen im Auge und erfreut euch an den besonderen Rückblicken. In diesem Jahr waren einige Besucher zum ersten Mal dabei und alle möchten wiederkommen. Wir auch. Und diesmal müssen wir nur 371 Tage warten. Versprochen?

Text: Nadine Kloppert

Quellenangabe: Headline “Your spirit can’t be broken”: Part aus dem Songtext “Resolution” von VNV Nation. Songwriter: Ronan Harris

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